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Die Philosophie der Freiheit
von Rudolf Steiner
aus dem Jahr 1894 ist die erkenntnistheoretische Grundlage für alle seine späteren Schriften. Es ist mir bekannt, daß die Gegner der okkulten Geisteswissenschaft insbesondere diese Schrift bei ihren Beurteilungen beiseite lassen. Diese Sorte von Feigheit ist sehr weit verbreitet und zeugt unter anderem von der mangelnden Erkenntnisfähigkeit dieser Kreise. Den Philosophen und den Praktikern der magisch-okkulten Geisteswissenschaft möchte ich auf diesem Wege die Chance geben, ein Buch kennen zu lernen, welches mir selbst viele Erkenntnisse vermittelt hat.
Wuppertal, 14.4.2001
Dieter Rüggeberg


Rudolf Steiner
Die Philosophie der Freiheit
GA 4

S. 38 > ....Beobachtung und Denken sind die beiden Ausgangspunkte für alles geistige Streben des Menschen, insoferne er sich eines solchen bewußt ist. Die Verrichtungen des gemeinen Menschenverstandes und die verwickeltesten wissenschaftlichen Forschungen ruhen auf diesen beiden Grundsäulen unseres Geistes. Die Philosophen sind von verschiedenen Urgegensätzen ausgegangen: Idee und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt, Erscheinung und Ding an sich, Ich und Nicht-Ich, Idee und Wille, Begriff und Materie, Kraft und Stoff, Bewußtes und Unbewußtes. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß allen diesen Gegensätzen der von Beobachtung und Denken, als der für den Menschen wichtigste, vorangehen muß.
Was für ein Prinzip wir auch aufstellen mögen: wir müssen es irgendwo als von uns beobachtet nachweisen, oder in Form eines klaren Gedankens, der von jedem anderen nachgedacht werden kann, aussprechen. Jeder Philosoph, der anfängt über seine Urprinzipien zu sprechen, muß sich der

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begrifflichen Form, und damit des Denkens bedienen. Er gibt damit indirekt zu, daß er zu seiner Betätigung das Denken bereits voraussetzt. Ob das Denken oder irgend etwas anderes Hauptelement der Weltentwickelung ist, darüber werde hier noch nichts ausgemacht. Daß aber der Philosoph ohne das Denken kein Wissen darüber gewinnen kann, das ist von vornherein klar. Beim Zustandekommen der Welterscheinungen mag das Denken eine Nebenrolle spielen, beim Zustandekommen einer Ansicht darüber kommt ihm aber sicher eine Hauptrolle zu.

Was nun die Beobachtung betrifft, so liegt es in unserer Organisation, daß wir derselben bedürfen. Unser Denken über ein Pferd und der Gegenstand Pferd sind zwei Dinge, die für uns getrennt auftreten. Und dieser Gegenstand ist uns nur durch Beobachtung zugänglich. So wenig wir durch das bloße Anstarren eines Pferdes uns einen Begriff von demselben machen können, ebensowenig sind wir imstande, durch bloßes Denken einen entsprechenden Gegenstand hervorzubringen.

Zeitlich geht die Beobachtung sogar dem Denken voraus.

Denn auch das Denken müssen wir erst durch Beobachtung kennenlernen. Es war wesentlich die Beschreibung einer Beobachtung, als wir am Eingange dieses Kapitels darstellten, wie sich das Denken an einem Vorgange entzündet und über das ohne sein Zutun Gegebene hinausgeht. Alles was in den Kreis unserer Erlebnisse eintritt, werden wir durch die Beobachtung erst gewahr. Der Inhalt von Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen, die Gefühle, Willensakte, Traum- und Phantasiegebilde, Vorstellungen, Begriffe und Ideen, sämtliche Illusionen und Halluzinationen werden uns durch die Beobachtung gegeben.

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S.47: ... keinem Dinge, das in den Horizont meiner Erlebnisse eintritt, sogleich im Augenblicke zu sagen. Es wird jeder Gegenstand erst in seinem Verhältnisse zu andern zu untersuchen sein, um bestimmen zu können, in welchem Sinne von ihm als einem existierenden gesprochen werden kann. Ein erlebter Vorgang kann eine Summe von Wahrnehmungen, aber auch ein Traum, eine Halluzination und so weiter sein. Kurz, ich kann nicht sagen, in welchem Sinne er existiert. Das werde ich dem Vorgange selbst nicht entnehmen können, sondern ich werde es erfahren, wenn ich ihn im Verhältnisse zu andern Dingen betrachte. Da kann ich aber wieder nicht mehr wissen, als wie er im Verhältnisse zu diesen Dingen steht. Mein Suchen kommt erst auf einen festen Grund, wenn ich ein Objekt finde, bei dem ich den Sinn seines Daseins aus ihm selbst schöpfen kann. Das bin ich aber selbst als Denkender, denn ich gebe meinem Dasein den bestimmten, in sich beruhenden Inhalt der denkenden Tätigkeit. Nun kann ich von da ausgehen und fragen: Existieren die andern Dinge in dem gleichen oder in einem andern Sinne?

Wenn man das Denken zum Objekt der Beobachtung macht, fügt man zu dem übrigen beobachteten Weltinhalt etwas dazu, was sonst der Aufmerksamkeit entgeht; man ändert aber nicht die Art, wie sich der Mensch auch den andern Dingen gegenüber verhält. Man vermehrt die Zahl der Beobachtungsobjekte, aber nicht die Methode des Beobachtens. Während wir die andern Dinge beobachten, mischt sich in das Weltgeschehen - zu dem ich jetzt das Beobachten mitzähle - ein Prozeß, der übersehen wird. Es ist etwas von allem andern Geschehen verschiedenes vorhanden, das nicht mitberücksichtigt wird. Wenn ich aber mein

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Denken betrachte, so ist kein solches unberücksichtigtes Element vorhanden. Denn was jetzt im Hintergrunde schwebt, ist selbst wieder nur das Denken. Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit. die sich auf ihn richtet. Und das ist wieder eine charakteristische Eigentümlichkeit des Denkens. Wenn wir es zum Betrachtungsobjekt machen, sehen wir uns nicht gezwungen, dies mit Hilfe eines Qualitativ-Verschiedenen zu tun, sondern wir können in demselben Element verbleiben.

Wenn ich einen ohne mein Zutun gegebenen Gegenstand in mein Denken einspinne, so gehe ich über meine Beobachtung hinaus, und es wird sich darum handeln: was gibt mir ein Recht dazu? Warum lasse ich den Gegenstand nicht einfach auf mich einwirken? Auf welche Weise ist es möglich, daß mein Denken einen Bezug zu dem Gegenstande hat? Das sind Fragen, die sich jeder stellen muß, der über seine eigenen Gedankenprozesse nachdenkt. Sie fallen weg, wenn man über das Denken selbst nachdenkt. Wir fügen zu dem Denken nichts ihm Fremdes hinzu, haben uns also auch über ein solches Hinzufügen nicht zu rechtfertigen.

Schelling sagt: *Die Natur erkennen, heißt die Natur schaffen.+ Wer diese Worte des kühnen Naturphilosophen wörtlich nimmt, wird wohl zeitlebens auf alles Naturerkennen verzichten müssen. Denn die Natur ist einmal da, und um sie ein zweites Mal zu schaffen, muß man die Prinzipien erkennen, nach denen sie entstanden ist. Für die Natur, die man erst schaffen wollte, müßte man der bereits bestehenden die Bedingungen ihres Daseins abgucken. Dieses Abgucken, das dem Schaffen vorausgehen müßte, wäre aber das Erkennen der Natur, und zwar auch dann, wenn nach erfolgtem Abgucken das Schaffen ganz unterbliebe. Nur eine noch (S.48)

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S. 53 > ... bereits Begriffe, die durch das Denken gebildet sind. Es ist nicht zu leugnen: Ehe anderes begriffen werden kann, muß es das Denken werden. Wer es leugnet, der übersieht, daß er als Mensch nicht ein Anfangsglied der Schöpfung, sondern deren Endglied ist. Man kann deswegen behufs Erklärung der Welt durch Begriffe nicht von den zeitlich ersten Elementen des Daseins ausgehen, sondern von dem, was uns als das Nächste, als das Intimste gegeben ist. Wir können uns nicht mit einem Sprunge an den Anfang der Welt versetzen, um da unsere Betrachtung anzufangen, sondern wir müssen von dem gegenwärtigen Augenblick ausgehen und sehen, ob wir von dem Späteren zu dem Früheren aufsteigen können. Solange die Geologie von erdichteten Revolutionen gesprochen hat, um den gegenwärtigen Zustand der Erde zu erklären, solange tappte sie in der Finsternis. Erst als sie ihren Anfang damit machte, zu untersuchen, welche Vorgänge gegenwärtig noch auf der Erde sich abspielen und von diesen zurückschloß auf das Vergangene, hatte sie einen sicheren Boden gewonnen. Solange die Philosophie alle möglichen Prinzipien annehmen wird, wie Atom, Bewegung, Materie, Wille, Unbewußtes, wird sie in der Luft schweben. Erst wenn der Philosoph das absolut Letzte als sein Erstes ansehen wird, kann er zum Ziele kommen. Dieses absolut Letzte, zu dem es die Weltentwickelung gebracht hat, ist aber das Denken.

Es gibt Leute, die sagen: ob unser Denken an sich richtig sei oder nicht, können wir aber doch nicht mit Sicherheit feststellen. Insoferne bleibt also der Ausgangspunkt jedenfalls ein zweifelhafter. Das ist gerade so vernünftig gesprochen, wie wenn man Zweifel hegt, ob ein Baum an sich richtig sei oder nicht. Das Denken ist eine Tatsache; und über die Rich-

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tigkeit oder Falschheit einer solchen zu sprechen, ist sinnlos. Ich kann höchstens darüber Zweifel haben, ob das Denken richtig verwendet wird, wie ich zweifeln kann, ob ein gewisser Baum ein entsprechendes Holz zu einem zweckmäßigen Gerät gibt. Zu zeigen, inwieferne die Anwendung des Denkens auf die Welt eine richtige oder falsche ist, wird gerade Aufgabe dieser Schrift sein. Ich kann es verstehen, wenn jemand Zweifel hegt, daß durch das Denken über die Welt etwas ausgemacht werden kann; das aber ist mir unbegreiflich wie jemand die Richtigkeit des Denkens an sich anzweifeln kann.

Zusatz zur Neuauflage 1918. In den vorangehenden Ausführungen wird auf den bedeutungsvollen Unterschied zwischen dem Denken und allen andern Seelentätigkeiten hingewiesen als auf eine Tatsache, die sich einer wirklich unbefangenen Beobachtung ergibt. Wer diese unbefangene Beobachtung nicht anstrebt, der wird gegen diese Ausführungen versucht sein, Einwendungen zu machen wie diese: wenn ich über eine Rose denke, so ist damit doch auch nur ein Verhältnis meines *Ich+ zur Rose ausgedrückt, wie wenn ich die Schönheit der Rose fühle. Es bestehe geradeso ein Verhältnis zwischen *Ich+ und Gegenstand beim Denken, wie zum Beispiel beim Fühlen oder Wahrnehmen. Wer diesen Einwand macht, der zieht nicht in Erwägung, daß nur in der Betätigung des Denkens das `IchA bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß. Bei keiner andern Seelentätigkeit ist dies restlos der Fall. Wenn zum Beispiel eine Lust gefühlt wird, kann eine feinere Beobachtung sehr wohl unterscheiden, inwieferne das `IchA sich mit einem Tätigen eins weiß und inwiefern in ihm ein Passives vorhanden ist, so daß die Lust für das

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"Ich" bloß auftritt. Und so ist es auch bei den andern Seelenbetätigungen. Man sollte nur nicht verwechseln: *Gedankenbilder haben+ und Gedanken durch das Denken verarbeiten. Gedankenbilder können traumhaft, wie vage Eingebungen in der Seele auftreten. Ein Denken ist dieses nicht. - Allerdings könnte nun jemand sagen: wenn das Denken so gemeint ist, steckt das Wollen in dem Denken drinnen, und man habe es dann nicht bloß mit dem Denken, sondern auch mit dem Wollen des Denkens zu tun. Doch würde dies nur berechtigen zu sagen: das wirkliche Denken muß immer gewollt sein. Nur hat dies mit der Kennzeichnung des Denkens, wie sie in diesen Ausführungen gemacht ist, nichts zu schaffen. Mag es das Wesen des Denkens immerhin notwendig machen, daß dieses gewollt wird: es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem "Ich" nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint. Man muß sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit des Denkens erscheint dieses dem Beobachter als durch und durch gewollt. Wer alles, was für die Beurteilung des Denkens in Betracht kommt, wirklich zu durchschauen sich bemüht, der wird nicht umhin können, zu bemerken, daß dieser Seelenbetätigung die Eigenheit zukommt, von der hier gesprochen ist.

Von einer Persönlichkeit, welche der Verfasser dieses Buches als Denker sehr hochschätzt, ist ihm eingewendet worden, daß so, wie es hier geschieht, nicht über das Denken gesprochen werden könne, weil es nur ein Schein sei, was man als tätiges Denken zu beobachten glaube. In Wirklichkeit beobachte man nur die Ergebnisse einer nicht bewußten Tätigkeit, die dem Denken zugrunde liegt. Nur weil diese nicht bewußte Tätigkeit eben nicht beobachtet werde, ent- (S.55)

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S. 92 > Diese anderen Dinge bleiben solchen Wesen äußerlich. Bei denkenden Wesen stößt dem Außendinge gegenüber der Begriff auf. Er ist dasjenige, was wir von dem Dinge nicht von außen, sondern von innen empfangen. Den Ausgleich, die Vereinigung der beiden Elemente, des inneren und des äußeren, soll die Erkenntnis liefern.

Die Wahrnehmung ist also nichts Fertiges, Abgeschlossenes, sondern die eine Seite der totalen Wirklichkeit. Die andere Seite ist der Begriff. Der Erkenntnisakt ist die Synthese von Wahrnehmung und Begriff. Wahrnehmung und Begriff eines Dinges machen aber erst das ganze Ding aus. Die vorangehenden Ausführungen liefern den Beweis, daß es ein Unding ist, etwas anderes Gemeinsames in den Einzelwesen der Welt zu suchen, als den ideellen Inhalt, den uns das Denken darbietet. Alle Versuche müssen scheitern, die nach einer anderen Welteinheit streben als nach diesem in sich zusammenhängenden ideellen Inhalt, welchen wir uns durch denkende Betrachtung unserer Wahrnehmungen erwerben. Nicht ein menschlich-persönlicher Gott, nicht Kraft oder Stoff, noch der ideenlose Wille (Schopenhauers) können uns als eine universelle Welteinheit gelten. Diese Wesenheiten gehören sämtlich nur einem beschränkten Gebiet unserer Beobachtung an. Menschlich begrenzte Persönlichkeit nehmen wir nur an uns, Kraft und Stoff an den Außendingen wahr. Was den Willen betrifft, so kann er nur als die Tätigkeitsäußerung unserer beschränkten Persönlichkeit gelten. Schopenhauer will es vermeiden, das *abstrakte+ Denken zum Träger der Welteinheit zu machen und sucht statt dessen etwas, das sich ihm unmittelbar als ein Reales darbietet. Dieser Philosoph glaubt, daß wir der Welt nimmermehr beikommen, wenn wir sie als Außenwelt ansehen.

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S. 95 > ... hat als die andere, so müssen wir unser Denken befragen. Ohne das funktionierende Denken erscheint uns das rudimentäre Organ des Tieres, das ohne Bedeutung für dessen Leben ist, gleichwertig mit dem wichtigsten Körpergliede. Die einzelnen Tatsachen treten in ihrer Bedeutung in sich und für die übrigen Teile der Welt erst hervor, wenn das Denken seine Fäden zieht von Wesen zu Wesen. Diese Tätigkeit des Denkens ist eine inhaltvolle. Denn nur durch einen ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen, warum die Schnecke auf einer niedrigeren Organisationsstufe steht als der Löwe. Der bloße Anblick, die Wahrnehmung gibt mir keinen Inhalt, der mich über die Vollkommenheit der Organisation belehren könnte.

Diesen Inhalt bringt das Denken der Wahrnehmung aus der Begriffs- und Ideenwelt des Menschen entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern. Die Form, in der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuition bezeichnen. Sie ist für das Denken, was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist. Intuition und Beobachtung sind die Quellen unserer Erkenntnis. Wir stehen einem beobachteten Dinge der Welt so lange fremd gegenüber, so lange wir in unserem Innern nicht die entsprechende Intuition haben, die uns das in der Wahrnehmung fehlende Stück der Wirklichkeit ergänzt. Wer nicht die Fähigkeit hat, die den Dingen entsprechenden Intuitionen zu finden, dem bleibt die volle Wirklichkeit verschlossen. Wie der Farbenblinde nur Helligkeitsunterschiede ohne Farbenqualitäten sieht, so kann der Intuitionslose nur unzusammenhängende Wahrnehmungsfragmente beobachten.

Ein Ding erklären, verständlich machen heißt nichts an-

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deres, als es in den Zusammenhang hinein versetzen, aus dem es durch die oben geschilderte Einrichtung unserer Organisation herausgerissen ist. Ein von dem Weltganzen abgetrenntes Ding gibt es nicht. Alle Sonderung hat bloß subjektive Geltung für unsere Organisation. Für uns legt sich das Weltganze auseinander in: oben und unten, vor und nach, Ursache und Wirkung, Gegenstand und Vorstellung, Stoff und Kraft, Objekt und Subjekt usw. Was uns in der Beobachtung an Einzelheiten gegenübertritt, das verbindet sich durch die zusammenhängende, einheitliche Welt unserer Intuitionen Glied für Glied; und wir fügen durch das Denken alles wieder in eins zusammen, was wir durch das Wahrnehmen getrennt haben.

Die Rätselhaftigkeit eines Gegenstandes liegt in seinem Sonderdasein. Dieses ist aber von uns hervorgerufen und kann, innerhalb der Begriffswelt, auch wieder aufgehoben werden.

Außer durch Denken und Wahrnehmen ist uns direkt nichts gegeben. Es entsteht nun die Frage: wie steht es gemäß unseren Ausführungen mit der Bedeutung der Wahrnehmung? Wir haben zwar erkannt, daß der Beweis, den der kritische Idealismus für die subjektive Natur der Wahrnehmungen vorbringt, in sich zerfällt; aber mit der Einsicht in die Unrichtigkeit des Beweises ist noch nicht ausgemacht, daß die Sache selbst auf einem Irrtume beruht. Der kritische Idealismus geht in seiner Beweisführung nicht von der absoluten Natur des Denkens aus, sondern stützt sich darauf, daß der naive Realismus, konsequent verfolgt, sich selbst aufhebe. Wie stellt sich die Sache, wenn die Absolutheit des Denkens erkannt ist?

Nehmen wir an, es trete eine bestimmte Wahrnehmung, (S.96)

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S. 99 > ... das Denken ist. Die Frage nach dem *Was+ einer Wahrnehmung kann also nur auf die begriffliche Intuition gehen, die ihr entspricht. Unter diesem Gesichtspunkte kann die Frage nach der Subjektivität der Wahrnehmung im Sinne des kritischen Idealismus gar nicht aufgeworfen werden. Als subjektiv darf nur bezeichnet werden, was als zum Subjekte gehörig wahrgenommen wird. Das Band zu bilden zwischen Subjektivem und Objektivem kommt keinem im naiven Sinn realen Prozeß, das heißt einem wahrnehmbaren Geschehen zu, sondern allein dem Denken. Es ist also für uns objektiv, was sich für die Wahrnehmung als außerhalb des Wahrnehmungssubjektes gelegen darstellt. Mein Wahrnehmungssubjekt bleibt für mich wahrnehmbar, wenn der Tisch, der soeben vor mir steht, aus dem Kreise meiner Beobachtung verschwunden sein wird. Die Beobachtung des Tisches hat eine, ebenfalls bleibende, Veränderung in mir hervorgerufen. Ich behalte die Fähigkeit zurück, ein Bild des Tisches später wieder zu erzeugen. Diese Fähigkeit der Hervorbringung eines Bildes bleibt mit mir verbunden. Die Psychologie bezeichnet dieses Bild als Erinnerungsvorstellung. Es ist aber dasjenige, was allein mit Recht Vorstellung des Tisches genannt werden kann. Es entspricht dies nämlich der wahrnehmbaren Veränderung meines eigenen Zustandes durch die Anwesenheit des Tisches in meinem Gesichtsfelde. Und zwar bedeutet sie nicht die Veränderung irgendeines hinter dem Wahrnehmungssubjekte stehenden *Ich an sich+, sondern die Veränderung des wahrnehmbaren Subjektes selbst. Die Vorstellung ist also eine subjektive Wahrnehmung im Gegensatz zur objektiven Wahrnehmung bei Anwesenheit des Gegenstandes im Wahrnehmungshorizonte. Das Zusammenwerfen jener subjektiven mit dieser objektiven Wahrnehmung (S.100) führt zu dem Mißverständnisse des Idealismus: die Welt ist meine Vorstellung. (S.99)

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S. 202 > .... Tautologie erklärt. Er sage: *Ich kann tun, was ich will. Aber zu sagen: ich kann wollen, was ich will, ist eine leere Tautologie.+ Ob ich tun, das heißt, in Wirklichkeit umsetzen kann, was ich will, was ich mir also als Idee meines Tuns vorgesetzt habe, das hängt von äußeren Umständen und von meiner technischen Geschicklichkeit (vgl. S. 193 f.) ab. Frei sein heißt die dem Handeln zugrunde liegenden Vorstellungen (Beweggründe) durch die moralische Phantasie von sich aus bestimmen können. Freiheit ist unmöglich, wenn etwas außer mir (mechanischer Prozeß oder nur erschlossener außerweltlicher Gott) meine moralischen Vorstellungen bestimmt. Ich bin also nur dann frei, wenn ich selbst diese Vorstellungen produziere, nicht, wenn ich die Beweggründe, die ein anderes Wesen in mich gesetzt hat, ausführen kann. Ein freies Wesen ist dasjenige, welches wollen kann, was es selbst für richtig hält. Wer etwas anderes tut, als er will, der muß zu diesem anderen durch Motive getrieben werden, die nicht in ihm liegen. Ein solcher handelt unfrei. Nach Belieben wollen können, was man für richtig oder nicht richtig hält, heißt also: nach Belieben frei oder unfrei sein können. Das ist natürlich ebenso absurd, wie die Freiheit in dem Vermögen zu sehen, tun zu können, was man wollen muß. Das letztere aber behauptet Hamerling, wenn er sagt: Es ist vollkommen wahr, daß der Wille immer durch Beweggründe bestimmt wird, aber es ist absurd zu sagen, daß er deshalb unfrei sei; denn eine größere Freiheit läßt sich für ihn weder wünschen noch denken, als die, sich nach Maßgabe seiner eigenen Stärke und Entschiedenheit zu verwirklichen.+ Jawohl: es läßt sich eine größere Freiheit wünschen, und das ist erst die wahre. Nämlich die: sich die Gründe seines Wollens selbst zu bestimmen. (S. 202)

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S. 209 > ... Lebensinhaltes in Form von Nahrungsmitteln verlangen. Das Streben nach Ehre besteht darin, daß der Mensch sein persönliches Tun und Lassen erst dann für wertvoll ansieht, wenn zu seiner Betätigung die Anerkennung von außen kommt. Das Streben nach Erkenntnis entsteht, wenn dem Menschen zu der Welt, die er sehen, hören usw. kann, solange etwas fehlt, als er sie nicht begriffen hat. Die Erfüllung des Strebens erzeugt in dem strebenden Individuum Lust, die Nichtbefriedigung Unlust. Es ist dabei wichtig zu beobachten, daß Lust oder Unlust erst von der Erfüllung oder Nichterfüllung meines Strebens abhängt. Das Streben selbst kann keineswegs als Unlust gelten. Wenn es sich also herausstellt, daß in dem Momente des Erfüllens einer Bestrebung sich sogleich wieder eine neue einstellt, so darf ich nicht sagen, die Lust hat für mich Unlust geboren, weil unter allen Umständen der Genuß das Begehren nach seiner Wiederholung oder nach einer neuen Lust erzeugt. Erst wenn dieses Begehren auf die Unmöglichkeit seiner Erfüllung stößt, kann ich von Unlust sprechen. Selbst dann, wenn ein erlebter Genuß in mir das Verlangen nach einem größeren oder raffinierteren Lusterlebnis erzeugt, kann ich von einer durch die erste Lust erzeugten Unlust erst in dem Augenblicke sprechen, wenn mir die Mittel versagt sind, die größere oder raffiniertere Lust zu erleben. Nur dann, wenn als naturgesetzliche Folge des Genusses Unlust eintritt, wie etwa beim Geschlechtsgenuß des Weibes durch die Leiden des Wochenbettes und die Mühen der Kinderpflege, kann ich in dem Genuß den Schöpfer des Schmerzes finden. Wenn Streben als solches Unlust hervorriefe, so müßte jede Beseitigung des Strebens von Lust begleitet sein. Es ist aber das Gegenteil der Fall. Der Mangel an Streben in unserem Le- (S.209)

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S. 223 > ... ich muß mir ihn dann auf sechs Tage verteilt denken, wodurch sein Wert für meinen Ernährungstrieb auf die Hälfte herabgemindert wird. Ebenso verhält es sich mit der Größe der Lust im Verhältnis zum Grade meines Bedürfnisses. Wenn ich Hunger für zwei Butterbrote habe, und nur eines bekommen kann, so hat der aus dem einen gezogene Genuß nur die Hälfte des Wertes, den er haben würde, wenn ich nach der Aufzehrung satt wäre. Dies ist die Art, wie im Leben der Wert einer Lust bestimmt wird. Sie wird bemessen an den Bedürfnissen des Lebens. Unsere Begierden sind der Maßstab; die Lust ist das Gemessene. Der Sättigungsgenuß erhält nur dadurch einen Wert, daß Hunger vorhanden ist; und er erhält einen Wert von bestimmter Größe durch das Verhältnis, in dem er zu der Größe des vorhandenen Hungers steht.

Unerfüllte Forderungen unseres Lebens werfen ihre Schatten auch auf die befriedigten Begierden und beeinträchtigen den Wert genußreicher Stunden. Man kann aber auch von dem gegenwärtigen Wert eines Lustgefühles sprechen. Dieser Wert ist um so geringer, je kleiner die Lust im Verhältnis zur Dauer und Stärke unserer Begierde ist.

Vollen Wert hat für uns eine Lustmenge, die an Dauer und Grad genau mit unserer Begierde übereinstimmt. Eine gegenüber unserem Begehren kleinere Lustmenge vermindert den Lustwert; eine größere erzeugt einen nicht verlangten Überschuß, der nur so lange als Lust empfunden wird, als wir während des Genießens unsere Begierde zu steigern vermögen. Sind wir nicht imstande, in der Steigerung unseres Verlangens mit der zunehmenden Lust gleichen Schritt zu halten, so verwandelt sich die Lust in Unlust. Der Gegenstand, der uns sonst befriedigen würde, stürmt auf

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uns ein, ohne daß wir es wollen, und wir leiden darunter. Dies ist ein Beweis dafür, daß die Lust nur so lange für uns einen Wert hat, als wir sie an unserer Begierde messen können. Ein Übermaß von angenehmem Gefühl schlägt in Schmerz um. Wir können das besonders bei Menschen beobachten, deren Verlangen nach irgendeiner Art von Lust sehr gering ist. Leuten, deren Nahrungstrieb abgestumpft ist, wird das Essen leicht zum Ekel. Auch daraus geht hervor, daß die Begierde der Wertmesser der Lust ist.

Nun kann der Pessimismus sagen: der unbefriedigte Nahrungstrieb bringe nicht nur die Unlust über den entbehrten Genuß, sondern positive Schmerzen, Qual und Elend in die Welt. Er kann sich hierbei berufen auf das namenlose Elend der von Nahrungssorgen heimgesuchten Menschen; auf die Summe von Unlust, die solchen Menschen mittelbar aus dem Nahrungsmangel erwächst. Und wenn er seine Behauptung auch auf die außermenschliche Natur anwenden will, kann er hinweisen auf die Qualen der Tiere, die in gewissen Jahreszeiten aus Nahrungsmangel verhungern. Von diesen Übeln behauptet der Pessimist, daß sie die durch den Nahrungstrieb in die Welt gesetzte Genußmenge reichlich überwiegen.

Es ist ja zweifellos, daß man Lust und Unlust miteinander vergleichen und den Überschuß der einen oder der andern bestimmen kann, wie das bei Gewinn und Verlust geschieht. Wenn aber der Pessimismus glaubt, daß auf der Seite der Unlust sich ein Überschuß ergibt, und er daraus auf die Wertlosigkeit des Lebens schließen zu können meint, so ist er schon insofern im Irrtum, als er eine Rechnung macht, die im wirklichen Leben nicht ausgeführt wird.

Unsere Begierde richtet sich im einzelnen Falle auf einen

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bestimmten Gegenstand. Der Lustwert der Befriedigung wird, wie wir gesehen haben, um so größer sein, je größer die Lustmenge im Verhältnis zur Größe unseres Begehrens ist *. Von der Größe unseres Begehrens hängt es aber auch ab, wie groß die Menge der Unlust ist, die wir mit in Kauf nehmen wollen, um die Lust zu erreichen. Wir vergleichen die Menge der Unlust nicht mit der der Lust, sondern mit der Größe unserer Begierde. Wer große Freude am Essen hat, der wird wegen des Genusses in besseren Zeiten sich leichter über eine Periode des Hungers hinweghelfen, als ein anderer, dem diese Freude an der Befriedigung des Nahrungstriebes fehlt. Das Weib, das ein Kind haben will, vergleicht nicht die Lust, die ihm aus dessen Besitz erwächst, mit den Unlustmengen, die aus Schwangerschaft, Kindbett, Kinderpflege und so weiter sich ergeben, sondern mit seiner Begierde nach dem Besitz des Kindes.

Wir erstreben niemals eine abstrakte Lust von bestimmter Größe, sondern die konkrete Befriedigung in einer ganz bestimmten Weise. Wenn wir nach einer Lust streben, die durch einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmte Empfindung befriedigt werden muß, so können wir nicht dadurch befriedigt werden, daß uns ein anderer Gegenstand oder eine andere Empfindung zuteil wird, die uns eine Lust von gleicher Größe bereitet. Wer nach Sättigung strebt, dem kann man die Lust an derselben nicht durch eine gleich große, aber durch einen Spaziergang erzeugte ersetzen. Nur wenn unsere Begierde ganz allgemein nach einem bestimmten Lustquantum strebte, dann müßte sie sofort verstum-
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* Von dem Falle, wo durch übermäßige Steigerung der Lust diese in Unlust umschlägt, sehen wir hier ab.

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men, wenn diese Lust nicht ohne ein sie an Größe überragendes Unlustquantum zu erreichen wäre. Da aber die Befriedigung auf eine bestimmte Art erstrebt wird, so tritt die Lust mit der Erfüllung auch dann ein, wenn mit ihr eine sie überwiegende Unlust in Kauf genommen werden muß. Dadurch, daß sich die Triebe der Lebewesen in einer bestimmten Richtung bewegen und auf ein konkretes Ziel losgehen, hört die Möglichkeit auf, die auf dem Wege zu diesem Ziele sich entgegenstellende Unlustmenge als gleichgeltenden Faktor mit in Rechnung zu bringen. Wenn die Begierde nur stark genug ist, um nach Überwindung der Unlust - und sei sie absolut genommen noch so groß - noch in irgendeinem Grade vorhanden zu sein, so kann die Lust an der Befriedigung doch noch in voller Größe durchgekostet werden. Die Begierde bringt also die Unlust nicht direkt in Beziehung zu der erreichten Lust, sondern indirekt, indem sie ihre eigene Größe (im Verhältnis) zu der der Unlust in eine Beziehung bringt. Nicht darum handelt es sich, ob die zu erreichende Lust oder Unlust größer ist, sondern darum, ob die Begierde nach dem erstrebten Ziele oder der Widerstand der entgegentretenden Unlust größer ist. Ist dieser Widerstand größer als die Begierde, dann ergibt sich die letztere in das Unvermeidliche, erlahmt und strebt nicht weiter. Dadurch, daß Befriedigung in einer bestimmten Art verlangt wird, gewinnt die mit ihr zusammenhängende Lust eine Bedeutung, die es ermöglicht, nach eingetretener Befriedigung das notwendige Unlustquantum nur insofern in die Rechnung einzustellen, als es das Maß unserer Begierde verringert hat. Wenn ich ein leidenschaftlicher Freund von Fernsichten bin, so berechne ich niemals: wieviel Lust macht mir der Blick von dem Berggipfel aus, direkt verglichen mit der Unlust

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des mühseligen Auf- und Abstiegs. Ich überlege aber: ob nach Überwindung der Schwierigkeiten meine Begierde nach der Fernsicht noch lebhaft genug sein wird. Nur mittelbar durch die Größe der Begierde können Lust und Unlust zusammen ein Ergebnis liefern. Es fragt sich also gar nicht, ob Lust oder Unlust im Übermaße vorhanden ist, sondern ob das Wollen der Lust stark genug ist, die Unlust zu überwinden.

Ein Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung ist der Umstand, daß der Wert der Lust höher angeschlagen wird, wenn sie durch große Unlust erkauft werden muß, als dann, wenn sie uns gleichsam wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß fällt. Wenn Leiden und Qualen unsere Begierde herabgestimmt haben, und dann das Ziel doch noch erreicht wird, dann ist eben die Lust im Verhältnis zu dem noch übriggebliebenen Quantum der Begierde um so größer. Dieses Verhältnis stellt aber, wie ich gezeigt habe, den Wert der Lust dar (vgl. S. 221 ff.). Ein weiterer Beweis ist dadurch gegeben, daß die Lebewesen (einschließlich des Menschen) ihre Triebe so lange zur Entfaltung bringen, als sie imstande sind, die entgegenstehenden Schmerzen und Qualen zu ertragen. Und der Kampf ums Dasein ist nur die Folge dieser Tatsache. Das vorhandene Leben strebt nach Entfaltung, und nur derjenige Teil gibt den Kampf auf, dessen Begierden durch die Gewalt der sich auftürmenden Schwierigkeiten erstickt werden. Jedes Lebewesen sucht so lange nach Nahrung, bis der Nahrungsmangel sein Leben zerstört. Und auch der Mensch legt erst Hand an sich selber, wenn er (mit Recht oder Unrecht) glaubt, die ihm erstrebenswerten Lebensziele nicht erreichen zu können. Solange er aber noch an die Möglichkeit glaubt, das nach seiner Ansicht Erstrebenswerte (S. 228) zu erreichen, kämpft er gegen alle Qualen und Schmerzen an. (S. 227)

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S. 232 > ... nicht erst abzuwerfen, um sittlich zu sein. Sittlichkeit liegt in dem Streben nach einem als berechtigt erkannten Ziel; ihm zu folgen, liegt im Menschenwesen, solange eine damit verknüpfte Unlust die Begierde danach nicht lähmt. Und dieses ist das Wesen alles wirklichen Wollens. Die Ethik beruht nicht auf der Ausrottung alles Strebens nach Lust, damit bleichsüchtige abstrakte Ideen ihre Herrschaft da aufschlagen können, wo ihnen keine starke Sehnsucht nach Lebensgenuß entgegensteht, sondern auf dem starken, von ideeller Intuition getragenen Wollen, das sein Ziel erreicht, auch wenn der Weg dazu ein dornenvoller ist.

Die sittlichen Ideale entspringen aus der moralischen Phantasie des Menschen. Ihre Verwirklichung hängt davon ab, daß sie von dem Menschen stark genug begehrt werden, um Schmerzen und Qualen zu überwinden. Sie sind seine Intuitionen, die Triebfedern, die sein Geist spannt; er will sie, weil ihre Verwirklichung seine höchste Lust ist. Er hat es nicht nötig, sich von der Ethik erst verbieten zu lassen, daß er nach Lust strebe, um sich dann gebieten zu lassen, wonach er streben soll. Er wird nach sittlichen Idealen streben, wenn seine moralische Phantasie tätig genug ist, um ihm Intuitionen einzugeben, die seinem Wollen die Stärke verleihen, sich gegen die in seiner Organisation liegenden Widerstände, wozu auch notwendige Unlust gehört, durchzusetzen.

Wer nach Idealen von hehrer Größe strebt, der tut es, weil sie der Inhalt seines Wesens sind, und die Verwirklichung wird ihm ein Genuß sein, gegen den die Lust, welche die Armseligkeit aus der Befriedigung der alltäglichen Triebe zieht, eine Kleinigkeit ist. Idealisten schwelgen geistig bei der Umsetzung ihrer Ideale in Wirklichkeit.

S.232

Wer die Lust an der Befriedigung des menschlichen Begehrens ausrotten will, muß den Menschen erst zum Sklaven machen, der nicht handelt, weil er will, sondern nur, weil er soll. Denn die Erreichung des Gewollten macht Lust. Was man das Gute nennt, ist nicht das, was der Mensch soll, sondern das, was er will, wenn er die volle wahre Menschennatur zur Entfaltung bringt. Wer dies nicht anerkennt, der muß dem Menschen erst das austreiben, was er will, und ihm dann von außen das vorschreiben lassen, was er seinem Wollen zum Inhalt zu geben hat.

Der Mensch verleiht der Erfüllung einer Begierde einen Wert, weil sie aus seinem Wesen entspringt. Das Erreichte hat seinen Wert, weil es gewollt ist. Spricht man dem Ziel des menschlichen Wollens als solchem seinen Wert ab, dann muß man die wertvollen Ziele von etwas nehmen, das der Mensch nicht will.

Die auf dem Pessimismus sich aufbauende Ethik entspringt aus der Mißachtung der moralischen Phantasie. Wer individuellen Menschengeist nicht für fähig hält, sich selbst den Inhalt seines Strebens zu geben, nur der kann die Summe des Wollens in der Sehnsucht nach Lust suchen. Der phantasielose Mensch schafft keine sittlichen Ideen. Sie müssen ihm gegeben werden. Daß er nach Befriedigung seiner niederen Begierden strebt: dafür aber sorgt die physische Natur. Zur Entfaltung des ganzen Menschen gehören aber auch die aus dem Geiste stammenden Begierden. Nur wenn man der Meinung ist, daß diese der Mensch überhaupt nicht hat, kann man behaupten, daß er sie von außen empfangen soll. Dann ist man auch berechtigt, zu sagen, daß er verpflichtet ist, etwas zu tun, was er nicht will. Jede Ethik, die von dem Menschen fordert, daß er sein Wollen zurück-

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dränge, um Aufgaben zu erfüllen, die er nicht will, rechnet nicht mit dem ganzen Menschen, sondern mit einem solchen, dem das geistige Begehrungsvermögen fehlt. Für den harmonisch entwickelten Menschen sind die sogenannten Ideen des Guten nicht außerhalb, sondern innerhalb des Kreises seines Wesens. Nicht in der Austilgung eines einseitigen Eigenwillens liegt das sittliche Handeln, sondern in der vollen Entwickelung der Menschennatur. Wer die sittlichen Ideale nur für erreichbar hält, wenn der Mensch seinen Eigenwillen ertötet, der weiß nicht, daß diese Ideale ebenso von dem Menschen gewollt sind, wie die Befriedigung der sogenannten tierischen Triebe

Es ist nicht zu leugnen, daß die hiermit charakterisierten Anschauungen leicht mißverstanden werden können. Unreife Menschen ohne moralische Phantasie sehen gerne die Instinkte ihrer Halbnatur für den vollen Menscheitsgehalt an, und lehnen alle nicht von ihnen erzeugten sittlichen Ideen ab, damit sie ungestört *sich ausleben+ können. Daß für die halbentwickelte Menschennatur nicht gilt, was für den Vollmenschen richtig ist, ist selbstverständlich. Wer durch Erziehung erst noch dahin gebracht werden soll, daß seine sittliche Natur die Eischalen der niederen Leidenschaften durchbricht: von dem darf nicht in Anspruch genommen werden, was für den reifen Menschen gilt. Hier sollte aber nicht verzeichnet werden, was dem unentwickelten Menschen einzuprägen ist, sondern das, was in dem Wesen des ausgereiften Menschen liegt. Denn es sollte die Möglichkeit der Freiheit nachgewiesen werden; diese erscheint aber nicht an Handlungen aus sinnlicher oder seelischer Nötigung, sondern an solchen, die von geistigen Intuitionen getragen sind. (S. 234)

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S. 247 > ... Schlußfolgerung gewonnene Metaphysik). Den Grund, warum wir durch geregeltes Denken den Weltzusammenhang begreifen, sah man von diesem Standpunkte aus darin, daß ein Urwesen nach logischen Gesetzen die Welt aufgebaut hat, und den Grund für unser Handeln sah man in dem Wollen des Urwesens. Doch erkannte man nicht, daß das Denken Subjektives und Objektives zugleich umspannt, und daß in dem Zusammenschluß der Wahrnehmung mit dem Begriff die totale Wirklichkeit vermittelt wird. Nur solange wir die die Wahrnehmung durchdringende und bestimmende Gesetzmäßigkeit in der abstrakten Form des Begriffes betrachten, solange haben wir es in der Tat mit etwas rein Subjektivem zu tun. Subjektiv ist aber nicht der Inhalt des Begriffes, der mit Hilfe des Denkens zu der Wahrnehmung hinzugewonnen wird. Dieser Inhalt ist nicht aus dem Subjekte, sondern aus der Wirklichkeit genommen. Er ist der Teil der Wirklichkeit, den das Wahrnehmen nicht erreichen kann. Er ist Erfahrung, aber nicht durch das Wahrnehmen vermittelte Erfahrung. Wer sich nicht vorstellen kann, daß der Begriff ein Wirkliches ist, der denkt nur an die abstrakte Form, wie er denselben in seinem Geiste festhält. Aber in solcher Absonderung ist er ebenso nur durch unsere Organisation vorhanden, wie die Wahrnehmung es ist. Auch der Baum, den man wahrnimmt, hat abgesondert für sich keine Existenz. Er ist nur innerhalb des großen Räderwerkes der Natur ein Glied, und nur in realem Zusammenhang mit ihr möglich. Ein abstrakter Begriff hat für sich keine Wirklichkeit, ebensowenig wie eine Wahrnehmung für sich. Die Wahrnehmung ist der Teil der Wirklichkeit, der objektiv, der Begriff derjenige, der subjektiv (durch Intuition, vgl. Seite 95 ff.) gegeben wird. Unsere geistige Organisation

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reißt die Wirklichkeit in diese beiden Faktoren auseinander. Der eine Faktor erscheint dem Wahrnehmen, der andere der Intuition. Erst der Zusammenhang der beiden, die gesetzmäßig sich in das Universum eingliedernde Wahrnehmung, ist volle Wirklichkeit. Betrachten wir die bloße Wahrnehmung für sich, so haben wir keine Wirklichkeit, sondern ein zusammenhangloses Chaos; betrachten wir die Gesetzmäßigkeit der Wahrnehmungen für sich, dann haben wir es bloß mit abstrakten Begriffen zu tun. Nicht der abstrakte Begriff enthält die Wirklichkeit; wohl aber die denkende Beobachtung, die weder einseitig den Begriff, noch die Wahrnehmung für sich betrachtet, sondern den Zusammenhang beider.

Daß wir in der Wirklichkeit leben (mit unserer realen Existenz in derselben wurzeln), wird selbst der orthodoxeste subjektive Idealist nicht leugnen. Er wird nur bestreiten, daß wir ideell mit unserem Erkennen auch das erreichen, was wir real durchleben. Demgegenüber zeigt der Monismus, daß das Denken weder subjektiv, noch objektiv, sondern ein beide Seiten der Wirklichkeit umspannendes Prinzip ist. Wenn wir denkend beobachten, vollziehen wir einen Prozeß, der selbst in die Reihe des wirklichen Geschehens gehört. Wir überwinden durch das Denken innerhalb der Erfahrung selbst die Einseitigkeit des bloßen Wahrnehmens. Wir können durch abstrakte, begriffliche Hypothesen (durch rein begriffliches Nachdenken) das Wesen des Wirklichen nicht erklügeln, aber wir leben, indem wir zu den Wahrnehmungen die Ideen finden, in dem Wirklichen. Der Monismus sucht zu der Erfahrung kein Unerfahrbares (Jenseitiges), sondern sieht in Begriff und Wahrnehmung das Wirkliche. Er spinnt aus bloßen abstrakten Begriffen keine Metaphy-

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sik, weil er in dem Begriffe an sich nur die eine Seite der Wirklichkeit sieht, die dem Wahrnehmen verborgen bleibt und nur im Zusammenhang mit der Wahrnehmung einen Sinn hat. Er ruft aber in dem Menschen die Überzeugung hervor, daß er in der Welt der Wirklichkeit lebt und nicht außerhalb seiner Welt eine unerlebbare höhere Wirklichkeit zu suchen hat. Er hält davon ab, das Absolut-Wirkliche anderswo als in der Erfahrung zu suchen, weil er den Inhalt der Erfahrung selbst als das Wirkliche erkennt. Und er ist befriedigt durch diese Wirklichkeit, weil er weiß, daß das Denken die Kraft hat, sie zu verbürgen. Was der Dualismus erst hinter der Beobachtungswelt sucht, das findet der Monismus in dieser selbst. Der Monismus zeigt, daß wir mit unserem Erkennen die Wirklichkeit in ihrer wahren Gestalt ergreifen, nicht in einem subjektiven Bilde, das sich zwischen den Menschen und die Wirklichkeit einschöbe. Für den Monismus ist der Begriffsinhalt der Welt für alle menschlichen Individuen derselbe (vgl. S. 89 ff.). Nach monistischen Prinzipien betrachtet ein menschliches Individuum ein anderes als seinesgleichen, weil es derselbe Weltinhalt ist, der sich in ihm auslebt. Es gibt in der einigen Begriffswelt nicht etwa so viele Begriffe des Löwen, wie es Individuen gibt, die einen Löwen denken, sondern nur einen. Und der Begriff, den A zu der Wahrnehmung des Löwen hinzufügt, ist derselbe, wie der des B, nur durch ein anderes Wahrnehmungssubjekt aufgefaßt (vgl. S. 90). Das Denken führt alle Wahrnehmungssubjekte auf die gemeinsame ideelle Einheit aller Mannigfaltigkeit. Die einige Ideenwelt lebt sich in ihnen als in einer Vielheit von Individuen aus. Solange sich der Mensch bloß durch Selbstwahrnehmung erfaßt, sieht er sich als diesen besonderen Menschen an; sobald er auf die

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in ihm aufleuchtende, alles Besondere umspannende Ideenwelt blickt, sieht er in sich das absolut Wirkliche lebendig aufleuchten. Der Dualismus bestimmt das göttliche Urwesen als dasjenige, was alle Menschen durchdringt und in ihnen allen lebt. Der Monismus findet dieses gemeinsame göttliche Leben in der Wirklichkeit selbst. Der ideelle Inhalt eines andern Menschen ist auch der meinige, und ich sehe ihn nur so lange als einen andern an, als ich wahrnehme, nicht mehr aber, sobald ich denke. Jeder Mensch umspannt mit seinem Denken nur einen Teil der gesamten Ideenwelt, und insofern unterscheiden sich die Individuen auch durch den tatsächlichen Inhalt ihres Denkens. Aber diese Inhalte sind in einem in sich geschlossenen Ganzen, das die Denkinhalte aller Menschen umfaßt. Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott. Das bloß erschlossene, nicht zu erlebende Jenseits beruht auf einem Mißverständnis derer, die glauben, daß das Diesseits den Grund seines Bestandes nicht in sich hat. Sie sehen nicht ein, daß sie durch das Denken das finden, was sie zur Erklärung der Wahrnehmung verlangen. Deshalb hat aber auch noch keine Spekulation einen Inhalt zutage gefördert, der nicht aus der uns gegebenen Wirklichkeit entlehnt wäre. Der durch abstrakte Schlußfolgerung angenommene Gott ist nur der in ein Jenseits versetzte Mensch; der Wille Schopenhauers die verabsolutierte menschliche Willenskraft; das aus Idee und Wille zusammengesetzte unbewußte Urwesen Hartmanns eine Zusammensetzung zweier Abstraktionen aus der Erfahrung. Genau dasselbe ist von allen anderen auf nicht erlebtem Denken ruhenden jenseitigen Prinzipien zu sagen. (S.250)

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S. 256 > ... einzige Wirklichkeit verbürge. Was als Wahrnehmung auftritt, das muß der Mensch auf seinem Lebenswege schlechterdings erwarten. Es könnte sich nur fragen: darf aus dem Gesichtspunkte, der sich bloß aus dem intuitiv erlebten Denken ergibt, berechtigt erwartet werden, daß der Mensch außer dem Sinnlichen auch Geistiges wahrnehmen könne?

Dies darf erwartet werden. Denn, wenn auch einerseits das intuitiv erlebte Denken ein im Menschengeiste sich vollziehender tätiger Vorgang ist, so ist es andererseits zugleich eine geistige, ohne sinnliches Organ erfaßte Wahrnehmung. Es ist eine Wahrnehmung, in der der Wahrnehmende selbst tätig ist, und es ist eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird. Im intuitiv erlebten Denken ist der Mensch in eine geistige Welt auch als Wahrnehmender versetzt. Was ihm innerhalb dieser Welt als Wahrnehmung so entgegentritt wie die geistige Welt seines eigenen Denkens, das erkennt der Mensch als geistige Wahrnehmungswelt. Zu dem Denken hätte diese Wahrnehmungswelt dasselbe Verhältnis wie nach der Sinnenseite hin die sinnliche Wahrnehmungswelt. Die geistige Wahrnehmungswelt kann dem Menschen, sobald er sie erlebt, nichts Fremdes sein, weil er im intuitiven Denken schon ein Erlebnis hat, das rein geistigen Charakter trägt. Von einer solchen geistigen Wahrnehmungswelt sprechen eine Anzahl der von mir nach diesem Buche veröffentlichten Schriften. Diese `Philosophie der FreiheitA ist die philosophische Grundlegung für diese späteren Schriften. Denn in diesem Buche wird versucht, zu zeigen, daß richtig verstandenes Denk-Erleben schon Geist-Erleben ist. Deshalb scheint es dem Verfasser, daß derjenige nicht vor dem Betreten der geistigen Wahrnehmungswelt haltmachen wird, der in vollem Ernste den Gesichtspunkt des Verfassers dieser

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Philosophie der Freiheit+ einnehmen kann. Logisch ableiten - durch Schlußfolgerungen - läßt sich aus dem Inhalte dieses Buches allerdings nicht, was in des Verfassers späteren Büchern dargestellt ist. Vom lebendigen Ergreifen des in diesem Buche gemeinten intuitiven Denkens wird sich aber naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die geistige Wahrnehmungswelt ergeben."

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